Scheinfasten oder wie ein angehender Rockmusiker zu einem der angesehensten Altersforscher der Welt wurde
Ich kann nicht fasten. Auch als langjährige Oberärztin einer Klinik für Komplementärmedizin und Heilfasten habe ich nie gefastet. Die Kinder waren klein, die Arbeit viel, der Haushalt war auch noch zu organisieren und der Urlaub knapp. Otto Buchinger brachte es auf den Punkt: Heilfasten soll eine Ewigkeitsminute der Stille im gehetzten Alltag sein. Also, weit gefehlt, Fasten eben mal so in einen voll gepackten und stressigen Alltag zu integrieren. Tatsächlich sehe ich auch heute immer wieder (beim ambulanten Fastenbegleiten in der Praxis), dass Fasten dann bei allem guten Willen tatsächlich zum Stress wird und sich alle positiven Effekte ins Gegenteil kehren. Aber wer hat schon Zeit und vor allem viel Geld, um in gediegender Atmosphäre 14Tage in aller Ruhe mit Vorbereitung, Fasten und Nahrungsaufbau in einer entsprechenden Klinik einzuchecken? Begleitet habe ich aber hunderte Patienten beim Heilfasten und die Ergebnisse haben mich oft staunen lassen, weit bevor eine einheitliche Studienlage die positiven Ergebnisse belegt hat. Im Rahmen der Vorbereitungen für meinen Vortrag im April diesen Jahres in Owingen zum Thema Langlebigkeit fiel mir das Thema wieder auf die Füsse: Kalorienrestriktion, wie auch immer sie aussehen mag, ist ein mächtiges Tool zur Verlängerung unserer Gesundheitsspanne, worum es bei Longevity im Wesentlichen geht. Neben Intervallfasten in unterschiedlichen Formen, Buchinger – oder Mayr Fasten ,ist in den letzten Jahren ein neuer Hype entstanden-an jedem Hype ist etwas dran, an diesem sogar besonders viel: das Scheinfasten. Oder besser gesagt, fasting mimicking diet, also eine das Fasten nachahmende Diät. Während Fasten so alt ist wie die Menschheit selbst und in allen Kulturen und Religionen eine Rolle spielt, ist das Scheinfasten eine evidenzbasierte Methode, die vor allem von Valter Longo in 30 Jahren wissenschaftlicher Arbeit erforscht wurde. Valter Longo wuchs in Kalabrien und Ligurien auf und wanderte mit 16 Jahren aus, um in den USA Rockgitarrist zu werden und Musik zu studieren. Mit 20Jahren wechselte er die Studiengänge und begann das Studium der Gerontologie (Alterungsprozesse) und der Langlebigkeit. Heute leitet er-neben vielen anderen Tätigkeiten- das Longevity Institit der University of South California in Los Angeles. Sein Verdienst ist es, das Fasten -belegt durch viele Studien- in ein alltagstaugliches Format gebracht zu haben, das ganze 5 Tage dauert, in denen man bestimmte Dinge essen kann und dennoch bis 85% der Effekte des Heilfastens, so Prof. Andreas Michalsen von der Berliner Charite in einem Interview mit Nils Behrens, einheimsen kann.
Die Effekte des Scheinfastens:
- Starker Autophagiereiz: Die in der Zelle angefallenen Abfälle werden entsorgt und wieder recycelt. Es wird aufgeräumt und ordentlich durchgeputzt, damit die Zelle ihre Aufgaben korrekt erledigen kann.
- Bildung von Ketonkörpern aus Fettsäuren als alternative Energiequelle zu Zucker, die positive Wirkungen haben:
- Wirken entzündungshemmend, neuroprotektiv, verbessern die Insulinsensitivität, haben antioxidative Wirkung und schützen die Zellen vor freien Radikalen
- Gewichtsabnahme und Abbau von Körperfett und nicht von Muskeln, also kein Muskelabbau.
- Reduktion von mTOR und IGF1durch Reduktion von Glucose und Protein (v.a. Methionin und Leucin), die grosse Antreiber von Alterungsprozessen sind
Achtung: Sämtlich Hallmarks of Aging, das sind die biologischen Mechanismen des Alterns, werden durch das Scheinfasten erreicht!
Wie sieht das Scheinfastenprogramm aus?
Am ersten Tag werden 1100kcal zu sich genommen, an Tag 2-5 700- max 800 kcal. Die Ernährung ist vegan, es wird kein Eiweiss zugeführt, keine Kohlenhydrate ausser Gemüse, die Kohlenhydrate enthalten aber kohlenhydratarm sind (z.B. Broccoli, Sellerie, Blumenkohl, etc). Fett wird in Form von Kokosöl, Olivenöl odder MCT-Öl (medium chain-Triglyzeride, mittelkettige Triglyceride, spezielle Fette, die rasch in Energie umgewandelt werden können) zu sich genommen. Es gibt 2 Mahlzeiten und 1 Snack/Tag. Das Essen darf gesalzen werden, Cafe ist in moderaten Mengen erlaubt. Eine regelmässige Darmreinigung z.B. in Form von Einläufen wird nicht vorgenommen, allerdings wird auf eien regelmässige Darmentleerung geachtet.
Es gibt Fastenboxen von Prof. Valter Longo oder auch von Prof. Andreas Michalsen (der gerade auch ein Buch über das Scheinfasten veröffentlich hat) wo für eher viel Geld eher wenig drin ist. Ich empfehle auf jeden Fall, die Mahlzeiten selbst zuzubereiten. Dafür ist das Buch von Veronika Pichl (Scheinfasten, das Kochbuch) hervorragend geeignet. Die Portionen sind zum Teil gross und sättigend, die Zubereitung einfach und absolut alltagstauglich, eine Portion kann für den nächsten Tag immer schon mitgekocht werden, was die Abläufe sehr erleichtert.
Ist die Methode nun alltagstauglich oder nicht? Ich meine ja! Natürlich ist man ab und an und nicht selten hungrig. Tag 2, an dem die Glykogenvorräte in der Leber abgebaut sind und der Körper die Energieherstellung nicht mehr aus Kohlenhydraten sondern aus den oben beschriebenen Ketonkörpern betreibt, ist anspruchsvoll. Die Zündschnur wird ein bisschen kürzer, die Geduldsspanne ist eindeutig reduziert, die körperliche Belastbarkeit geringer. Aber das kann man ja vorher seiner Umwelt kommunizieren! Ein Ketonhigh im Gehirn hat sich bei mir nicht eingestellt, von maximaler Belastbarkeit war auch keine Rede aber letztendlich sind die 5 Tage wirklich gut zu bewerkstelligen!
Wie oft soll Scheinfasten durchgeführt werden? Valter Longo empfielt, in den ersten 3 Monaten 1x/Monat 5 Tage Scheinfasten einzuschieben (m.E. eher schwierig umzusetzen), dann rät er Gesunden zu 3-4 Scheinfastenprogrammen/Jahr, was ich wieder als realistisch empfinde. Eine Gewichtsabnahme von ca 2-3 kg ist in den 5 Tagen problemlos möglich
Gibt es Nachteile? Nein, aber fehlende Vorteile. Ein cleanes Fasten ohne Nahrungszufuhr mit regelmässigen abführenden Massnahmen ist für unseren Darm, dem Zentrum unserer Gesundheit, eine enorme Entlastung. Daran lässt sich nicht herumdeuteln und an den daraus resultierenden Effekten v.a. für die Darmgesundheit auch nicht. Hier sind die 15% der nicht zu erreichenden Effekte anzusiedeln, die das Scheinfasten nicht erbringen kann.
Fazit: Regelmässige Phasen von Scheinfasten, 3-4x/Jahr sind für den Organismus eine grossartige Möglichkeit, die Gesundheit zu verbessern und im besten Fall unsere „Healthspan“, die Gesundheitsspanne zu verlängern. Die Methode ist bezüglich ihrer Effekte absolut studienerprobt, sicher und alltagstauglich und ermöglicht auch „Nichtfastern“, von einem Grossteil der Effekte durch Fasten zu profitieren. Der Zeitaufwand beim Zubereiten der Mahlzeiten ist absolut vertretbar. Die Fastenspanne ist begrenzt und übersehbar, was durchaus motivationsfördernd ist. Also, eine wirklich gute Möglichkeit, vielleicht auch die eigene Ernährung zu überdenken, mehr zu einer pflanzenbasierten Kost zurückzufinden und eine gesunde neue Erfahrung zu machen.
Buchempfehlung:Valter Longo, Iss Dich jung, wissenschaftlich erprobte Ernährung für ein gesundes und langes Leben
© Dr. Nicole Lion-Mock