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Sport ist Mord oder über die Sinnhaftigkeit einer definitiv lebensverlängernden Maßnahme

Vor mir sitzt in der Komplementärmedizinischen Sprechstunde eine junge Patientin Mitte 30, die gerade eine lebensbedrohliche Erkrankung mit den modernsten schulmedizinischen Therapien auf universitärem Niveau mit einer ausgezeichneten Prognose bewältigt hat. Nun geht es darum, die Ernährung zu optimieren, Mikronährstoffdefizite aufzufüllen und die Lebensstilfaktoren zu beleuchten. Hierzu zählt Sport als wichtiger Faktor. Die Frage nach sportlicher Aktivität wird mit einem eifrigen „Ja“ beantwortet. Das erfordert eine genauere Nachfrage und ich erfahre, dass die Patientin jeden Tag ihren 3 Jahre alten Sohn mit dem E-Bike, ebene Strecke, 600 Meter zum Kindergarten fährt und ihn dort wieder abholt. Von ihr wird dieses Bewegungspensum als angemessen erlebt, vor der Erkrankung wurde keine regelmäßige sportliche Aktivität ausgeübt.

Um Sport in Prävention und Therapie kommen wir nicht mehr herum. Bis Mitte der 80er Jahre standen Herz-Kreislauf-Erkrankungen im Mittelpunkt der sportmedizinischen Forschung, danach verlagerten sich die Forschungsschwerpunkte auf Stoffwechselerkrankungen, Demenz, Osteoporose, Tumorerkrankungen und auf das Immunsystem. Mittlerweile gibt es ausreichend Fakten und Zahlen für das individuelle Maß an Bewegung, abhängig von Gesundheitszustand, Erkrankungen und körperlichem Fitnesszustand. In Deutschland ist beinahe jeder Zweite zu inaktiv und erreicht nicht die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation. Tatsächlich spielt der Bewegungsmangel heute in derselben Liga wie die klassischen Risikofaktoren Rauchen, Bluthochdruck oder Diabetes. Der Satz „Sitzen ist das neue Rauchen“ scheint belegt, da „Extremsitzer“ (mehr als 8 Stunden am Tag) ein um rund 80% erhöhtes Sterberisiko aufweisen, wenn keine Bewegung durchgeführt wird, die das lange Sitzen kompensiert (5 Stunden pro Woche!)

 

Wie sind nun die aktuellen Empfehlungen der WHO zur körperlichen Bewegung?

Erwachsene im Alltag zwischen 18 und 64 Jahren sollten sich pro Woche mindestens 150 Minuten moderat oder 75 Minuten intensiv bewegen, wobei beide Aktivitätsformen auch gemischt werden können.

Moderate körperliche Aktivität umfasst dabei Sport mit 50 bis 70% der maximalen Herzfrequenz, bei dem man sich einen noch unterhalten kann (zügig mit dem Hund spazieren gehen, mässig schnelles Fahrrad fahren).

Intensive körperliche Aktivität liegt im Bereich von 70 bis 85% der maximalen Herzfrequenz, zum Beispiel Joggen oder schnelles Fahrradfahren, eine Unterhaltung ist im Regelfall nicht mehr möglich.

Die Länge der Sporteinheiten sollte mindestens 10 Minuten betragen

Muskelaufbautraining sollte an mindestens 2 Tagen pro Woche durchgeführt werden.

 

Welche Erkenntnisse liegen diesen Empfehlungen zugrunde?

Unser Immunsystem reagiert direkt auf eine körperliche Belastung, schon nach wenigen Sekunden zeigt sich eine Veränderung im Blutbild. Das zelluläre Immunsystem reagiert, indem die weißen Blutkörperchen ansteigen, insbesondere eine Untergruppe der weißen Blutkörperchen, die Lymphozyten, deren Untergruppen für die Abwehr von Tumorzellen, Viren und Bakterien wichtig sind. Auch wird ein Anstieg bestimmter Immunglobuline gemessen. Eine Studie zeigt, dass bei Menschen mit einem moderaten Trainingsumfang (15 bis 25 Laufkilometer pro Woche in eher niedriger Belastungsintensität, verteilt auf 3 bis viermal pro Woche) Atemwegsinfektionen im Herbst und Winter signifikant seltener auftreten und virale und bakterielle Erkrankungen schneller überwunden werden. Auch ist die Erholungszeit nach einem Infekt deutlich verkürzt. Während einer Erkrankung darf natürlich auf keinen Fall Sport getrieben werden, hier kann es sehr rasch zu einer Umkehr der positiven Wirkungen auf das Immunsystem kommen, was sich auch bei Extremsportlern zeigt bzw. bei ambitionierten Sportlern zeigt, die einen Infekt kaum ohne Bewegung aussitzen können.

Sport hat einen ausgeprägten Anti-Aging-Effekt. Regelmäßiger Ausdauersport ( 3x45 Minuten pro Woche) erhöht die Aktivität des Enzyms Telomerase. Dieses Enzym verlängert die Telomere, sozusagen die Schutzkappen auf unseren Chromosomen und damit auch die Lebensdauer unserer Zellen, da die Chromosomen mit jeder Zellteilung kürzer werden und sich nur einer bestimmten Anzahl von Zellteilungen unterziehen können, bevor sie sterben. Die Reserven gegen eine vorzeitige Alterung wird also durch verlängerte Telomere vergrößert.

Laut dem Deutschen Krebsforschungszentrum zeigt die aktuelle epidemiologische Studienlage einen deutlichen Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und verschiedenen Tumoren. Ein körperlich aktiver Lebensstil kann das Risiko an bestimmten Krebsformen senken. Hier zeigen sich deutliche Zusammenhänge im Hinblick auf Darmkrebs, Brustkrebs nach der Menopause und Gebärmutterhalskrebs, aber es zeigen sich auch Hinweise auf eine vor Krebs schützende Wirkung bei Tumoren der Lunge, der Bauchspeicheldrüse und der Prostata. Aktuell wird laut dem Deutschen Krebsforschungszentrum die potenzielle Risikoreduktion durch erhöhte körperliche Aktivität zwischen 20%-30%, je nach Tumorart, angegeben. Doch auch nach einer Krebsdiagnose ist es nicht zu spät für Sport, Patient*Innen, die an Brust oder Darmkrebs erkrankt waren und erst danach begannen, sich zu bewegen, konnten ihr Sterberisiko mit einem Training nach WHO-Empfehlungen um circa 28% senken.

Bei Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus Typ II spielt Sport sowohl in der Prävention als auch in der Therapie eine entscheidende Rolle. Schon 2,5 Stunden aktives Spazierengehen/Woche verringert bei Gesunden das Diabetesrisiko um 30% und Menschen, die bereits an Diabetes erkrankt waren, konnten ihren Langzeitzuckerwert um bis zu 0,7% senken und 2 von 3 Patienten konnten ihre ihre Medikation reduzieren.

Die Effekte von regelmäßiger Bewegung das Herz Kreislauf System sind hinlänglich bekannt. Bereits 10 Minuten langsames Joggen am Tag reduzieren das Risiko, an eine Herz-Kreislauf-Erkrankung zu sterben, um fast 2/3. Regelmäßige Bewegung senkt den Blutdruck, verbessert das Lipidprofil, also die Blutfette, fördert die Ausschüttung von gefäßerweiternden Substanzen, regt die Bildung neuer Blutgefäße und stabilisiert bereits vorhandene Plaques, also Ablagerungen in den Blutgefäßen.

Die Effekte von Bewegung auf das Gehirn sind beeindruckend, bereits 10 Minuten Spazierengehen reichen aus, um Neuronen besser zu vernetzen und die Gedächtnisleistung zu erhöhen. Körperliche Bewegung lässt neue Gehirnzellen im Hippocampus und im frontalen Cortex wachsen und verbessert so die Lern- und Merkfähigkeit. Damit kann auch einer Demenz entgegengewirkt werden. Eine Studie mit einem Follow up von 44 Jahren zeigt dies eindrücklich, Menschen mit einem hohen Fitness Level hatten einen bis zu 80% reduziertes Demenzrisiko. Dieser positive Effekt wird vermutlich über ein im Gehirn produziertes Hormon erreicht, den sogenannten Brain Derived Neurotropic Factor (BDNF), bereits 20 bis 40 Minuten Bewegung erhöhen die Konzentration davon um bis zu 30%. BDNF ist u.a. für das Langzeitgedächtnis, das abstrakte und organisatorische Denken und logische Gedankengänge wichtig.

Sport erhöht die Konzentrationen von Dopamin, Serotonin und Noradrenalin, also von Neurotransmittern, die über die Aktivierung unseres Belohnungssystems im Gehirn unsere Stimmung verbessern und Stress reduzieren. Auch hier ist die Studienlage eindeutig , körperliche Aktivität ist ein wichtiger Baustein in der Therapiestrategie von Depressionen und Angsterkrankungen.

Wenn die Bedeutung von körperlicher Aktivität jedem bekannt ist, warum bewegen wir uns nicht?

Eine letzte Studie könnte hier Aufschluss geben: An ihr nahmen 140 Patient*Innen mit Depressionen und oder Angststörungen teil. Sie konnten wählen, ob sie 4 Monate ein Medikament einnehmen oder 2 bis dreimal pro Woche an einem 45 minütigen Lauftraining teilnehmen wollten. 45 Personen entschieden sich für die medikamentöse Therapie, 95 für den Sport. Nach 4 Monaten hatten sich die Symptome in beiden Gruppen bei rund 45% gebessert. Sport konnte also den Teilnehmer*Innen genauso gut helfen wie eine medikamentöse Therapie. Allerdings schaffen es nur 50% der Sportgruppe, das Training beizubehalten, während 82% die Therapie mit Antidepressiva weiter befolgten.

Letztendlich sind Eigenmotivation, Selbstdisziplin und Konsequenz gefragt, um in einen aktiveren Lebensstil hinein zu kommen und diesen im Alltag zu etablieren. Elementar hierfür ist, eine Sportart zu finden, die man mag und die zu einem passt. Menschen, die nicht gerne laufen oder joggen, werden mit einem Nordic Walking Programm nicht glücklich und ihre Trainingseinheiten nach wenigen Wochen beenden. Im Fall der eingangs erwähnten Patientin fand diese eine elegante Lösung: Nachdem sie ihren Sohn in den Kindergarten gebracht hatte, radelte Sie auf einem Fahrrad- Ergometer, das längst im Keller verstaubt war und wieder Einzug ins Wohnzimmer hielt, 3x/Woche 45 Minuten und schaute sich dabei ihre Lieblings-Netflix-Serie an.

Auch Vorbilder können uns motivieren und Inspirationsquellen und Orientierungshilfen sein. Dazu fällt mir die Mittsechzigerin ein, die vor über 10 Jahren an Brustkrebs erkrankte und seither an 5 Tagen pro Woche konsequent ein kombiniertes Muskel- und Ausdauertraining durchführt. Besucht Sie mich in der Sprechstunde, was aufgrund ihres hervorragenden Gesundheitszustandes sehr selten vorkommt, antwortet sie, auf Ihr Sportprogramm angesprochen, dass sie doch auf keinen Fall ihre Lebensversicherung aufgeben möchte….. Oder der Mittsiebziger mit einer komplizierten koronaren Herzerkrankung, der, unter kardiologischer Aufsicht, jedes Jahr hoch konsequent und bestens dokumentiert auf seinem Ergometer mehr als 7000 Kilometer zurücklegt und möglicherweise bereits einem oder mehreren Herzinfarkten davon geradelt ist….

Also, setzen wir wir uns doch ganz individuell, abgestimmt auf unsre eigenen Bedürfnisse und vor allem ohne Druck in Bewegung.

© Dr. Nicole Lion-Mock